1 Die
Uneinigkeit der Menschen in Dingen der Religion und
Moral wie auch ihr Abirren von der Wahrheit war von
jeher für alle Guten, besonders die gläubigen und
aufrechten Söhne der Kirche, der Grund und die
Ursache allertiefsten Schmerzes. Heute gilt das ganz
besonders, da Wir überall Angriffe gegen die
Grundlagen der christlichen Kultur wahrnehmen.
2 Es wundert
Uns zwar nicht, dass eine solche Uneinigkeit und
solche Irrtümer sich immer außerhalb der Kirche
Christi fanden; denn wenn auch der menschliche
Verstand mit seinen natürlichen Erkenntniskräften an
sich zur wahren und sicheren Erkenntnis des einen
persönlichen Gottes, der durch seine Vorsehung die
Welt schützt und regiert, sowie des Naturgesetzes,
das der Schöpfer in unser Herz legte, kommen kann,
so bestehen doch für ihn nicht wenige Hindernisse,
von seiner ursprünglichen Fähigkeit einen wirklich
fruchtbaren Gebrauch zu machen; denn alle Dinge, die
sich auf Gott beziehen und das zwischen Gott und den
Menschen bestehende Verhältnis angehen, ruhen in
Wahrheiten, die die Welt der Sinne überragen. Diese
verlangen vom Menschen die Eigenhingabe und
Selbstverleugnung, wenn sie auf die Lebensführung
Einfluss gewinnen und sie bestimmen. Der menschliche
Verstand wird in der Erkenntnis solcher Wahrheiten
behindert durch die Gewalt der Sinne und der
Einbildungskraft, wie auch durch die verkehrten
Leidenschaften, die ihren Ursprung in der Erbsünde
haben. Darum reden sich Menschen in diesen Dingen
gern ein, es sei das falsch oder zweifelhaft, was
sie nicht wahrhaben möchten.
3 Darum muss gesagt werden,
dass die göttliche ”Offenbarung” moralisch notwendig
ist, damit, was in Fragen der Religion und der
Sitten dem Verstand an sich nicht verborgen ist,
auch bei dem gegenwärtigen Zustande des
Menschengeschlechts, von allen leicht, mit fester
Gewissheit und ohne jeglichen Irrtum erkannt werden
kann[1].
4 Ja, zuweilen
kann der menschliche Verstand Schwierigkeiten haben
bei der Bildung eines sicheren Urteils der
”Glaubwürdigkeit” um den katholischen Glauben
selbst, obwohl so zahlreiche und wunderbare Zeichen
von Gott kamen, auf Grund derer schon in der Kraft
des natürlichen Verstandes der göttliche Ursprung
der christlichen Religion sicher bewiesen werden
kann. Der Mensch kann ja entweder durch Vorurteile
verleitet oder durch Leidenschaft und schlechten
Willen angestachelt, sowohl die Evidenz der äußeren
Zeichen leugnen, die feststeht, wie auch den
übernatürlichen Einflüsterungen widerstehen, durch
die Gott zu unseren Herzen spricht.
I. Irrtümliche Lehren der Gegenwart
1. Irrtümer über die
Vernunft und die Offenbarung
5 Wer heute
die Welt außerhalb der Hürde Christi beobachtet,
kann leicht die Hauptwege erkennen, die nicht wenige
Gelehrte wählten. Einige lassen unklug und
urteilslos die sogenannte Entwicklungslehre, die auf
dem eigenen Gebiet der Naturwissenschaften noch
nicht sicher bewiesen ist, für den Ursprung aller
Dinge zu und verlangen sie; vermessentlich huldigen
sie der monistischen und pantheistischen Auffassung,
dass das Weltall einer ständigen Entwicklung
unterworfen sei. Die Freunde des Kommunismus aber
benützen mit Freuden diese Ansicht, um ihren
„dialektischen Materialismus” wirkungsvoller zu
verteidigen und verbreiten, wobei sie jeden Gedanken
an Gott aus den Herzen entfernen.
6 Die
Behauptungen dieser Entwicklungslehre, die alles,
was absolut, fest, unveränderlich ist, leugnet,
haben dem Irrtum einer neueren Philosophie, die mit
dem ”Idealismus”, ”Immanentismus” und ”Pragmatismus”
wetteifert und sich ”Existenzialismus” nennt, die
Wege bereitet; er kümmert sich nicht um das
unveränderliche Wesen der Dinge und wendet seine
Aufmerksamkeit nur der ”Existenz” der
Einzelgegenstände zu.
7 Dazu kommt
noch ein falscher ”Historizismus”, der nur auf das
Geschehen im menschlichen Leben achtet und die
Grundlagen jeder Wahrheit und jedes allgemein
gültigen Gesetzes vernichtet, sowohl für die
Philosophie wie auch für die christlichen
Glaubenssätze.
8 Bei einer
solchen Verwirrung der Meinungen tröstet es Uns ein
wenig, zu sehen, dass solche, die in den Grundsätzen
des ”Rationalismus” erzogen wurden, heute nicht
selten zu den Quellen der göttlichen Offenbarung
zurückkehren wünschen und das Wort Gottes, das in
der Heiligen Schrift enthalten ist, als Grundlage
der Theologie anerkennen und verkünden. Zugleich
aber ist es zu beklagen, wie nicht wenige von ihnen,
je fester sie dem Worte Gottes anhängen, desto mehr
die menschliche Vernunft herabsetzen, und je höher
sie in ihrer Begeisterung die Autorität der
göttlichen Offenbarung erheben, desto heftiger das
Lehramt der Kirche verachten, das Christus, der
Herr, einsetzte, um die von Gott geoffenbarten
Wahrheiten zu bewahren und zu erklären. Das steht
aber nicht nur in offenem Widerspruch zur Heiligen
Schrift, sondern erweist sich auch in der Erfahrung
als falsch; häufig nämlich beklagen sich diese, die
sich von der wahren Kirche getrennt halten, über
ihre eigene Uneinigkeit in dogmatischen Fragen, so
dass sie gegen ihren Willen die Notwendigkeit des
lebendigen Lehramtes bezeugen.
2. Gefährliche
Haltungen im kirchlichen Bereich
9 Es ist aber
Pflicht der katholischen Theologen und Philosophen,
die die große Aufgabe haben, die göttliche und
menschliche Wahrheit zu verteidigen und den Herzen
der Menschen einzupflanzen, diese mehr oder weniger
vom rechten Weg abirrenden Ansichten zu kennen und
zu beachten. Ja, diese Lehrmeinungen selbst sollen
ihnen gut bekannt sein, weil schon Krankheiten nicht
gut geheilt werden können, wenn sie nicht richtig
erkannt sind, dann auch, weil in falschen Ansichten
häufig ein Körnchen Wahrheit liegt; endlich auch
drängen diese dazu, bestimmte philosophische und
theologische Wahrheiten eifriger zu untersuchen und
durchzudenken.
10 Wenn unsere
Philosophen und Theologen aus der gründlichen
Untersuchung dieser Lehren nur solche Früchte suchen
wollten, hätte das kirchliche Lehramt keinen Grund,
Einspruch zu erheben. Aber wenn Wir auch wissen,
dass die katholischen Lehrer sich im allgemeinen vor
diesen Irrtümern hüten, so fehlt es doch heute, wie
in den apostolischen Zeiten, nicht an solchen, die
allzu sehr das Neue suchen, oder aber auch fürchten,
in den Dingen des wissenschaftlichen Fortschritts
für unwissend gehalten zu werden, und darum sich der
Leitung des heiligen Lehramtes zu entziehen
trachten; so laufen sie Gefahr, sich unmerklich den
geoffenbarten Wahrheiten zu entfernen und auch
andere mit sich in den Irrtum zu ziehen.
11 Es zeigt
sich auch eine andere Gefahr, die umso größer ist,
als sie sich mehr in den Schein der Tugend hüllt.
Viele, die den Zwiespalt und die Verirrung der
Geister betrauern, lassen sich von einem unklugen
Eifer treiben, von ihrem Inneren drängen und brennen
in unüberlegter Begierde, die Umzäunungen zu
entfernen, durch die gute und aufrechte Menschen
voneinander getrennt sind; sie geben sich einem
solchen ”Irenismus” hin, dass sie unter
Beiseitesetzung der trennenden Fragen nicht nur auf
den Atheismus schauen, den sie mit vereinten Kräften
bekämpfen, sondern auch auf die Beseitigung der
Gegensätze in den Glaubenslehren. Und wie es eine
Zeit gab, da sich manche fragten, ob nicht die
herkömmliche Apologetik mehr ein Hindernis sei, die
Seelen für Christus zu gewinnen, so fehlt es auch
heute nicht an solchen, die so weit zu gehen wagen,
dass sie ernstlich die Frage vorlegen, ob nicht die
heutige Theologie und ihre Methode, die von der
kirchlichen Autorität gebilligt werden, nicht nur
vervollkommnet, sondern ganz reformiert werden
müsste, damit das Reich Christi auf der ganzen Welt,
unter Menschen jeder Kultur und jeder religiösen
Anschauung wirkungsvoller verbreitet werden könne.
12 Wenn diese
nur die Absicht hätten, durch Einführung irgendeiner
Neuerung die kirchliche Lehre und ihre Methode den
modernen Verhältnissen und Anforderungen anzupassen,
gäbe es kaum einen Grund zur Besorgnis; aber in dem
unklugen Übereifer ihres ”Irenismus” halten
anscheinend einige auch die Dinge für Hindernisse
der brüderlichen Verständigung, die auf den Gesetzen
und Grundsätzen Christi und den von ihm gegründeten
Einrichtungen selbst beruhen, oder die als Bollwerk
und Stütze des unversehrten Glaubens dastehen; wenn
diese fallen, dann ist zwar alles geeint, aber nur
zum allgemeinen Ruin.
13 Moderne
Ansichten dieser Art, ob sie nun aus der traurigen
Sucht nach Neuerungen hervorgehen oder einen
lobenswerten Grund haben, werden nicht immer in der
gleichen Abstufung, derselben Deutlichkeit oder den
gleichen Ausdrücken vorgelegt, auch nicht immer
unter einmütiger Zustimmung ihrer Urheber; denn was
heute von einigen mit gewissen Einschränkungen und
Unterscheidungen, in mehr verdeckter Weise gelehrt
wird, das bringen morgen andere, die weniger
zurückhaltend sind, offen, in übertriebene Weise
vor; und zwar zum Ärgernis für viele, besonders den
jüngeren Klerus und zum Schaden der kirchlichen .
Autorität. Was bei Veröffentlichungen in Buchform
mit mehr Vorsicht behandelt wird, das wird offener
vorgestellt in privat verarbeiteten Schriften, in
Verlesungen und Besprechungen. Diese Auffassungen
finden ihre Verbreitung nicht nur beim Welt und
Ordensklerus und in den Seminarien, sondern auch in
Laienkreisen, besonders bei den Jugenderziehern.
3. Theologischer und
dogmatischer Relativismus
14 In der
Theologie aber gehen einige darauf aus, den Begriff
der Dogmen möglichst abzuschwächen; das Dogma selbst
möchten sie von der in der Kirche seit langem
üblichen Ausdrucksweise und den Begriffen der
katholischen Philosophie freimachen, um bei der
Erklärung der katholischen Lehre zu den
Formulierungen der Heiligen Schrift und der heiligen
Väter zurückzukehren. So hoffen sie, dass das Dogma,
gereinigt von allen Bestandteilen, die nach ihren
Worten äußerliche Bestandteile der göttlichen
Offenbarung sind, zu einem fruchtbaren Vergleich
kommt mit den Glaubenssätzen der von der Kirche
Getrennten, um dann so den Weg zu finden, das
katholische Dogma und die von ihm abweichenden
Ansichten einander anzugleichen.
15 Haben sie
dann die katholische Lehre zu diesem Stand gebracht,
so glauben sie, werde der Weg bereitet, auf dem den
modernen Bedürfnissen entsprechend das Dogma auch in
den Begriffen der heutigen Philosophie ausgedrückt
werden könne, ganz gleich, ob es der ”Immanentismus”,
”Idealismus”, ”Existenzialismus“ oder irgendein
anderes System ist. Es könne und müsse das deshalb
auch geschehen, behaupten einige mit einiger
Kühnheit, weil die Geheimnisse des Glaubens sich
niemals in Begriffe fassen lassen, die vollständig
der Wahrheit entsprechen, sondern nur in Ausdrücken,
die ”annäherungsweise” wahr, und ständig
Veränderungen unterworfen sind; diese deuten die
Wahrheiten zwar einigermaßen, gestalten sie aber
auch notwendigerweise um. Darum halten sie es nicht
für abwegig, sondern für durchaus notwendig, dass
die Theologie entsprechend den verschiedenen
Philosophien, deren sie sich im Laufe der Zeit als
Instrument bedient, neue Begriffe an die Stelle der
alten setze, so dass sie auf verschiedene Weise, die
unter sich sogar in gewissem Sinn im Widerspruch
stehen, aber, wie sie sagen, das gleiche bedeuten,
die gleichen göttlichen Wahrheiten in menschlicher
Art ausdrücken. Sie fügen noch hinzu, die Geschichte
der Dogmen bestehe in der Wiedergabe der
verschiedenen aufeinanderfolgenden Formen, in die
die Wahrheit sich gekleidet habe, entsprechend den
verschiedenen Lehren und Ansichten, die im Laufe der
Zeiten entstanden.
16 Die
bisherigen Ausführungen zeigen deutlich, dass diese
Versuche nicht nur zum sogenannten dogmatischen
”Relativismus” führen, sondern ihn bereits
enthalten; er ist auch allzu sehr begünstigt durch
die Verachtung der gewöhnlich überlieferten Lehre
gegenüber, sowie der Worte, mit denen sie sich
ausdrückt. Es leugnet wohl niemand, dass die
Bezeichnungen für diese Begriffe, wie sie in der
Schule und vom kirchlichen Lehramt benützt werden,
verbessert und gefeilt werden können; außerdem ist
bekannt, dass sich die Kirche im Gebrauch dieser
Ausdrücke nicht immer gleich blieb. Klar ist auch,
dass sie sich nicht an irgendein kurzlebiges
philosophisches System binden kann; die Begriffe und
Bezeichnungen, die von den katholischen Gelehrten
nach gemeinsamer Übereinkunft im Laufe mehrerer
Jahrhunderte geprägt wurden, um eine Glaubenslehre
verständlich zu machen, stützen sich wahrhaftig
nicht auf ein so hinfälliges Fundament. Sie stützen
sich im Gegenteil auf Prinzipien und Begriffe, die
aus wahrheitsgemäßer Erkenntnis der geschaffenen
Welt abgeleitet wurden; allerdings erleuchtete die
geoffenbarte Wahrheit durch die Kirche wie ein
heller Stern den Verstand des Menschen. Es wundert
Uns darum nicht, wenn einige von diesen Begriffen
von den Allgemeinen Konzilien nicht nur angewandt,
sondern auch feierlich bestätigt wurden; es ist
darum unrecht, sie fallen zu lassen.
17 Es wäre
sehr töricht, die Begriffe und Bezeichnungen, an
denen Menschen außergewöhnlicher Geisteskraft und
Heiligkeit unter der Aufsicht des kirchlichen
Lehramtes, in der Gnade und unter Leitung des
Heiligen Geistes Jahrhunderte lang geformt und
gefeilt haben, um geistige Glaubenswahrheiten noch
stets genauer in Werte zu fassen, zu
vernachlässigen, zu verwerfen oder ihres Wertes zu
berauben, um ihre Stelle mutmaßliche Begriffe zu
stellen und Worte einer neuen Philosophie, die weder
eine feste Form noch Gestalt hat, Begriffe, die wie
die Blumen des Feldes heute bestehen und morgen
fallen; es macht diese Auffassung das Dogma zu einem
Rohr, das vom Winde hin- und hergetrieben wird. Die
Verachtung der Bezeichnungen und Begriffe, die die
scholastische Theologie gebraucht, führt auch von
selbst zur Schwächung der spekulativen Theologie,
der sie keine Sicherheit zuschreiben, weil sie sich
auf theologische Beweisgründe stützt.
4. Falscher Begriff
vom Lehramt der Kirche
18 Leider gehen diese Neuerer
von der Verachtung der scholastischen Theologie sehr
leicht dazu über, das Lehramt der Kirche selbst, das
diese Theologie mit ihrer Autorität so sehr stützt,
nicht zu beachten oder sogar zu verachten. Sie
stellen dieses Lehramt als ein Hemmnis für den
Fortschritt und als ein Hindernis für die
Wissenschaft hin. Einige Nichtkatholiken aber sehen
es als ungerechten Zwang an, der Theolegen von
höherer Bildung davon abhält, ihre Lehrmeinungen zu
reformieren. Und wenn auch dieses heilige Lehramt
für einen jeden Theologen in Dingen des Glaubens und
der Sitten die nächste und allgemeine Norm sein muss
(da Christus, der Herr, ihm den ganzen
Glaubensschatz anvertraut hat, d. h. die Heilige
Schrift und die göttliche Überlieferung, um ihn zu
behüten, zu verteidigen und zu erklären), so gerät
doch immer wieder in Vergessenheit, als wenn sie
nicht bestände, die Pflicht der Gläubigen, ebenfalls
diese Irrtümer zu fliehen, die sich mehr oder
weniger der Häresie nähern, und also ”auch die
Konstitutionen und Erlasse zu beachten, mit denen
der Heilige Stuhl falsche Ansichten dieser Art
verworfen und verboten hat“[2].
Mit Absicht haben sich einige daran gewöhnt, das
nicht zu beachten, was die Rundschreiben der
Römischen Päpste über die Natur und die Einrichtung
der Kirche sagen, nur um eine mehr unbestimmte
Auffassung vorherrschen zu lassen, die sie aus den
Schriften der alten Väter, besonders der
griechischen, geschöpft zu haben behaupten. Die
Päpste, so pflegen sie zu sagen, wollen kein Urteil
abgeben in den Fragen, über die die Theologen
disputieren, und darum sei es nötig, zu den ersten
Quellen zurückzugehen und die neueren Konstitutionen
und Erlasse des kirchlichen Lehramtes nach den
Schriften der Alten zu erklären.
19 Wenn das
auch geistreich zu sein scheint, es liegt doch ein
Irrtum darin. Wahr ist, dass die Päpste im
allgemeinen den Theologen die Freiheit lassen in den
Fragen, in denen hervorragende Geisteslehrer
verschiedener Meinung sind; die Geschichte lehrt
aber auch, dass in verschiedenen Fragen, die vorher
umstritten waren, nachher keine Verschiedenheit der
Meinungen zugelassen wurde.
20
Man darf ebenfalls nicht annehmen, man brauche den
Rundschreiben nicht zuzustimmen, weil die Päpste
darin nicht ihr höchstes Lehramt ausüben. Sie sind
aber doch Äußerungen des ordentlichen Lehramtes, von
dem auch das Wort Christi gilt: ”Wer euch hört, der
hört mich”[3].
Sehr häufig gehört das, was die Enzykliken lehren
und einschärfen, sonst wie schon zum katholischen
Lehrgut. Wenn die Päpste in ihren Akten ein Urteil
über eine bislang umstrittene Frage aussprechen,
dann ist es für alle klar, dass diese nach der
Absicht und dem Willen dieser Päpste nicht mehr der
freien Erörterung unterliegen kann.
21 Wahr ist ebenfalls, dass
die Theologen ständig auf die Quellen der göttlichen
Offenbarung zurückgreifen sollen; es ist ja ihre
Aufgabe, aufzuzeigen,. warum das, was das lebendige
Lehramt vorbringt, sich in der Heiligen Schrift und
in der göttlichen „Überlieferung” entweder
ausdrücklich oder einschließend findet[4].
Sicher ist, dass dieser doppelte Quell der Lehre
göttlicher Offenbarung so viele und so große Schätze
der Wahrheiten enthält, dass er nie wirklich ganz
ausgeschöpft werden kann. Darum erneuern auch die
heiligen Wissenschaften durch das Studium der
heiligen Quellen ihre Kraft, während die
Spekulation, die eine weitere Untersuchung des
Glaubensschatzes vernachlässigt, wie Wir durch
Erfahrung feststellen konnten, ohne Frucht bleibt.
Aus diesem Grunde kann auch die sogenannte positive
Theologie nicht einfach mit der
Geschichtswissenschaft gleichgestellt werden, da
Gott der Kirche zusammen mit diesen heiligen Quellen
das lebendige Lehramt schenkte, um auch die
Wahrheiten zu erklären und zu entfalten, die im
”Depositum fidei” nur dunkel und gleichsam
eingehüllt enthalten sind. Diesen Glaubensschatz hat
der Heiland weder den einzelnen Christgläubigen noch
auch den Theolegen selbst zur authentischen
Erklärung hinterlassen, sondern allein dem
kirchlichen Lehramt. Wenn aber die Kirche dieses ihr
Amt, wie es im Laufe der Zeiten häufig geschehen
ist, durch einen ordentlichen oder außerordentlichen
Akt ausübt, so steht als sicher fest, dass die
Methode falsch ist, nach der man klare Wahrheiten
aus unklaren beweisen will; im Gegenteil müssen alle
den entgegengesetzten Weg gehen. Darum fügte Unser
unvergesslicher Vorgänger, Pius IX., bei der
Erklärung, dass es vornehmste, Aufgabe der Theologie
sei, zu zeigen, wie die von der Kirche feierlich
aufgestellte Lehre in den Quellen enthalten sei,
nicht ohne wichtigen Grund die Worte hinzu : ”in dem
gleichen Sinn, wie die Kirche sie definierte”.
5. Missverstandene
Auslegung der Heiligen Schrift
22 Kehren wir
zu den neuen Ansichten zurück, die oben berührt
wurden. Mehrere Dinge werden von einigen vorgetragen
und den Herzen eingeflößt zum Schaden der göttlichen
Autorität der Heiligen Schrift. Sie verdrehen kühn
den Sinn der Definition des Vatikanischen Konzils
über Gott als den Urheber der Heiligen Schrift und
erneuern den bereits öfters verworfenen Satz, nach
dem sich die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift
nur auf die Gegenstände bezieht, die über Gott, und
Fragen der Moral und der Religion handeln. In
falscher Weise sprechen sie über einen menschlichen
Sinn der heiligen Bücher, unter dem nach ihrer
Exklärung der göttliche Sinn verborgen liege. Bei
der Auslegung der Heiligen Schrift wollen sie der
Analogie des Glaubens und der ”Überlieferung” keine
Rechnung tragen, so dass mehr die Lehre der heiligen
Väter und des kirchlichen Lehramtes zu messen sei
nach der Heiligen Schrift – die von den Exegeten in
rein menschlicher Weise erklärt werden müsse –, als
die Heilige Schrift zu erklären: sei nach dem Sinn
der Kirche, die aber von Christus dem Herrn als
Hüterin und Erklärerin des ganzen von Gott
offenbarten Glaubensschatzes aufgestellt ist.
23 Außerdem
müsste der wörtliche Sinn der Heiligen Schrift und
ihre Auslegung, die von so vielen und so großen
Exegeten unter der Aufsicht der Kirche ausgearbeitet
wurde, nach ihrer falschen Ansicht einer neuen
Schrifterklärung weichen, die sie die symbolische
oder geistige nennen; nach dieser Exegese würden
endlich einmal die Bücher des Alten Testamentes, die
heute wie ein verschlossener Brunnen in der Kirche
verborgen lägen, allen geöffnet werden. Auf die
gleiche Weise, so behaupten sie, verschwinden alle
Schwierigkeiten, die nur für solche ein Hindernis
bilden, die am wörtlichen Sinn der Heiligen Schrift
festhalten.
24 Jeder
sieht, wie sich alle diese Ansichten von den
Grundsätzen und Normen der Schrifterklärung
entfernen, die mit Recht aufgestellt wurden von
Unseren Vorgängern sel. Angedenkens, Leo XIII. in
der Enzyklika ”Providentissimus”, von Benedikt XV.
in der Enzyklika ”Spiritus Paraclitus” und von Uns
selbst in der Enzyklika „Divino afflante spiritu”.
6. Zehn theologische
Irrtümer der Gegenwart
25 Es braucht uns nicht zu
wundern, dass das Gift dieser Neuerungen in alle
Teile der Theologie gelangte. So wird in Zweifel
gezogen, dass der menschliche Verstand ohne Hilfe
der göttlichen 0ffenbarung und der Gnade mit
Beweisen aus der Schöpfung die Existenz eines
persönlichen Gottes beweisen könne; geleugnet wird,
dass die Welt einen Anfang hat, und gezeigt, dass
die Schöpfung notwendig ist, da sie aus der
notwendigen Freigebigkeit Gottes hervorgehe;
verneint wird ebenfalls das ewige und unfehlbare
Vorherwissen Gottes um die freien Handlungen der
Menschen: All diese Ansichten stehen im Widerspruch
zu den Erklärungen des Vatikanischen Konzils[5].
26 Einige
werfen auch die Frage auf, ob die Engel persönliche
Geschöpfe sind, ob Stoff und Geist sich wesentlich
unterscheiden. Andere verwerfen es, dass die
übernatürliche Ordnung ein freies Geschenk Gottes
sei, mit der Behauptung, Gott könne keine
vernunftbegabten Wesen schaffen, ohne sie auf die
Anschauung der Seligen hinzuordnen und sie dazu zu
berufen. Damit nicht genug : Der Begriff der
Erbsünde wird, unter Außerachtlassung der
Entscheidungen des Konzils von Trient, ebenso wie
dieser der Sünde im allgemeinen als Beleidigung
Gottes vernichtet, wie auch der Begriff der
Genugtuung, die Christus für uns leistete. Es finden
sich auch solche, die behaupten, die Lehre von der
Wesensverwandlung, die sich auf den veralteten
philosophischen Begriff der Substanz stütze, müsse
so verändert werden, dass die wirkliche Gegenwart
Christi in der heiligsten Eucharistie auf einen
gewissen Symbolismus zurückgeführt werde. Demnach
sollen die heiligen Gestalten nur wirksame Zeichen
sein der geistigen Gegenwart Christi und Seiner
innigen Vereinigung mit den gläubigen Gliedern im
geheimnisvollen Leibe Christi.
27 Einige halten sich nicht
gebunden an die vor einigen Jahren in einem
Rundschreiben erklärte Lehre, die sich auf die
Quellen der ”Offenbarung” stützt und erklärt, dass
der geheimnisvolle Leib Christi und die Römische
katholische Kirche ein und dasselbe seien[6].
Andere schwächen die Notwendigkeit der Zugehörigkeit
zur wahren Kirche, um das ewige Heil zu erlangen, zu
einer bloßen Formel ab. Schließlich tun wieder
andere dem Charakter der ”Glaubwürdigkeit” des
christlichen Glaubens, der dem Verstand einsichtig
ist, Gewalt an.
II. Darlegung der katholischen Lehre
28 Es steht
fest, dass diese und ähnliche Irrtümer sich in die
Herzen einiger unserer Söhne einschlichen, die sich
täuschen ließen von einem, unklugen Seeleneifer oder
einer Wissenschaft, die diesen Namen nicht verdient;
traurigen Herzens sind Wir mit schwerer Sorge
gezwungen, diese bereits bekannten Wahrheiten zu
wiederholen und offenbare Irrtümer wie ihre Gefahren
anzuzeigen.
1. Die Philosophie
betreffend:
a) Richtige
Einschätzung des menschlichen Verstandes
29 Es ist allen bekannt, wie
hoch die Kirche den Wert der menschlichen Vernunft
stellt, der es zukommt, die Existenz des einen
persönlichen Gottes mit Sicherheit zu beweisen, wie
auch die Grundlagen des christlichen Glaubens
unwiderleglich durch göttliche Zeichen aufzuzeigen;
gleicherweise soll sie auch das Gesetz, das der
Schöpfer in die Herzen der Menschen schrieb, in das
rechte Licht stellen; endlich auch zu einer
beschränkten, aber äußerst fruchtbaren Erkenntnis
der Geheimnisse kommen[7].
b) Die traditionelle
Philosophie
Aber dieser Aufgabe
kann die Vernunft nur dann in entsprechender Weise
und mit Sicherheit gerecht werden, wenn sie nach
Gebühr ausgebildet wird; wenn sie also mit jener
gesunden Philosophie genährt wird, die wie ein
Erbteil früherer christlicher Jahrhunderte
überliefert ist, also auch ein höheres Ansehen
besitzt, weil das Lehramt der Kirche selbst, ihre
Grundsätze und wesentlichsten Behauptungen, die von
geistvollen Männern allmählich aufgedeckt und
bestimmt wurden, zum Maßstab der göttlichen
„Offenbarung“ gemacht hat. Diese gleiche
Philosophie, von der Kirche anerkannt und
zugelassen, verteidigt den wirklichen Wert der
menschlichen Erkenntnis, die unerschütterlichen
Grundgesetze der Metaphysik – vom hinreichenden
Grund, von der Ursächlichkeit und Zweckhaftigkeit –
und endlich die Erreichung der sicheren und
unveränderlichen Wahrheit.
c) Der wahre
philosophische Fortschritt
30 In dieser
Philosophie gibt es sicherlich verschiedene Fragen,
die sich weder unmittelbar noch mittelbar auf den
Glauben und die Sitten beziehen, und die von der
Kirche der freien Erörterung der Fachgelehrten
überlassen werden; aber für verschiedene andere
Dinge, besonders die Grundsätze und Hauptlinien, die
Wir oben erwähnten, kann nicht die gleiche Freiheit
gelten. Aber es kann auch in diesen wesentlichen
Fragen der Philosophie ein mehr entsprechendes und
reicheres Gewand angelegt werden; man kann ihre
Kraft vergrößern durch die Formung neuer
zweckentsprechender Ausdrücke, sie von weniger
passenden, schulmäßigen Dingen freimachen, sie auch
– aber mit Vorsicht – bereichern mit bestimmten
Anteilen des Fortschritts menschlichen Geistes; nie
aber hat man das Recht, sie zugrundezurichten oder
sie mit falschen Grundsätzen zu beflecken oder sie
als ein gewaltiges, aber doch veraltetes Monument zu
achten; denn die Wahrheit und jede ihrer
philosophischen Äußerungen kann nicht täglichen
Veränderungen unterworfen werden. Das gilt
besonders, wenn es sich um der menschlichen Vernunft
an sich bekannte Grundsätze handelt oder jene Sätze,
die sich auf die Weisheit von Jahrhunderten wie auch
auf die Zustimmung und das Fundament der göttlichen
Offenbarung stützen. Die Wahrheiten, die der
menschliche Verstand in ehrlichem Suchen entdecken
wird, vermögen nicht im Gegensatz zu stehen zu einer
bereits entdeckten Wahrheit; Gott, die höchste
Wahrheit, hat den menschlichen Verstand erschaffen
und leitet ihn, aber nicht so, dass er der in
ehrlichem Streben erworbenen Wahrheit täglich neue
Erkenntnisse entgegenstellt, sondern um nach
Entfernung etwaiger Irrtümer, das Wahre durch andere
neue Erkenntniswahrheiten zu überhöhen, in der
gleichen Ordnung und Verbindung, in der wir die
Natur selbst, aus der wir die Wahrheit schöpfen,
aufgebaut sehen. Darum soll der Christ, Philosoph
oder Theologe, nicht eilfertig und leichtsinnig all
die neuen Ideen in sich aufnehmen, die täglich
ausgedacht werden, sondern muss sie mit größter
Sorgfalt prüfen und nach rechtem Maß abwägen, um
nicht die bereits erworbene Wahrheit mit großer
Gefahr und großem Schaden für seinen Glauben zu
verlieren oder zu verderben.
d) Die Lehre des
heiligen Thomas von Aquin
31 Nach diesen Überlegungen
versteht man leicht, warum die Kirche verlangt, dass
ihre zukünftigen Priester in den philosophischen
Fächern unterrichtet werden ”nach der Methode, der
Lehre und den Grundsätzen des Englischen Lehrers[8].
Sie weiß ja nach einer Erfahrung von Jahrhunderten
gut, dass die Methode des Aquinaten sich vor andern
bewährt, sowohl im Unterricht wie auch in der Suche
nach verborgenen Wahrheiten; dass seine Lehre
fernerhin in Harmonie mit der göttlichen Offenbarung
steht und in wirkungsvoller Weise sichere Fundamente
des Glaubens legt, wie auch mit Nutzen und
Sicherheit die Früchte eines gesunden Fortschritts
bringt[9].
32 Darum ist
es sehr zu beklagen, dass man die Philosophie, die
von der Kirche aufgenommen und anerkannt ist, heute
von mancher Seite der Verachtung preisgibt, als
veraltet in der Form und rationalistisch –, wie sie
sagen – in der Denkweise erklärt. Die Gegner
behaupten, dass diese unsere Philosophie
irrtümlicherweise die Meinung verteidige, es gebe
eine absolut gültige Metaphysik; während sie im
Gegenteil sagen, die Wahrheiten, besonders die
transzendenten, könnten keinen geeigneteren Ausdruck
finden als in ganz verschiedenen Lehrsätzen, die
sich ergänzen, obwohl sie untereinander in gewisser
Weise im Gegensatz stehen. Darum geben sie auch zu,
dass die auf unseren Schulen gelehrte Philosophie
mit ihrer klaren Beschreibung der Fragestellung und
Lösung, mit der genauen Bestimmung der Begriffe und
ihren klaren Unterscheidungen wohl nützlich sein
könne zum Studium der scholastischen Theologie, die
sich der Denkungsart des mittelalterlichen Menschen
in hervorragender Weise anpasste; aber – so fügen
sie hinzu – sie kann keine philosophische Methode
bieten, die unserer modernen Kultur mit ihren
Bedürfnissen entspricht. Sie wenden ferner ein, dass
die ”philosophia perennis” nur eine Philosophie der
unveränderlichen Wesenheiten sei, während das
moderne Denken interessiert sein müsse an der
”Existenz” der Einzeldinge und dem stets fließenden
Leben. Während sie aber diese Philosophie verachten,
preisen sie andere Systeme hoch, alte oder neue,
solche östlicher oder westlicher Völker, in einer
Art, die andeuten zu wollen scheint, jede beliebige
Philosophie oder Meinung könne unter Beifügung –
wenn das notwendig ist – einiger Verbesserungen oder
Ergänzungen mit dem katholischen Dogma vereint
werden. Aber kein Katholik kann daran zweifeln, dass
dieses ein vollständiger Irrtum ist, besonders da es
sich um Systeme handelt, wie den ”Immanentismus”,
”Idealismus”, den geschichtlichen oder dialektischen
”Materialismus” oder auch den ”Existenzialismus”,
entweder in der Form des Atheismus oder wie er sich
wenigstens gegen den Wert der metaphysischen
Schlussfolgerung wendet.
33 Schließlich werfen sie der
Philosophie unserer Schulen noch vor, dass sie im
Erkenntnisvorgang nur den Verstand berücksichtige,
die Tätigkeit des Willens aber und der
Gemütsbewegungen vernachlässige. Das entspricht
nicht der Wahrheit. Denn niemals hat die christliche
Philosophie den Nutzen und die Wirksamkeit
geleugnet, die die gute Verfassung der Gesamtseele
für die volle Erkenntnis und Erfassung der
religiösen und sittlichen Wahrheiten haben; im
Gegenteil, sie hat immer gelehrt, dass das Fehlen
einer solchen Verfassung der Grund dafür sein kann,
dass der Verstand unter dem Einfluss der
Leidenschaften und des bösen Willens so verdunkelt
wird, dass er nicht mehr richtig sieht. Mehr noch,
der ”Doctor Communis” glaubt, dass der Verstand in
irgendeiner Weise die höheren Güter der natürlichen
oder übernatürlichen Sittenordnung begreifen könne,
insofern, als er in seinem Innern eine gewisse
gemütsmäßige natürliche oder gnadenhafte
”Naturgleichheit” (Connaturalitas) mit diesen Gütern
verspürt[10].
Es versteht sich, wie sehr diese, wenn auch nur im
Unterbewusstsein liegende Erkenntnis den Bemühungen
der Vernunft helfen kann. Den Willensaffekten die
Kraft zuerkennen, der Vernunft zu helfen, zu einer
sichereren und festeren Erkenntnis der sittlichen
Wahrheiten zu kommen, bedeutet aber nicht, was diese
Neuerer behaupten, dass nämlich der Wille und das
Gefühl eine gewisse intuitive Kraft haben, und dass
der Mensch, wo er durch Verstandestätigkeit nicht
mit Sicherheit die Wahrheit erkennen kann, sich an
den Willen wendet, mit dem er einen freien
Entschluss und eine Wahl zwischen entgegengesetzten
Meinungen treffen kann; dabei vermischt er in übler
Weise die Erkenntnis und den Willensakt miteinander.
e) Aufgabe der
Theodizee und der Ethik
34 Es nimmt
kein Wunder, dass diese neuen Ansichten zwei
philosophische Fächer in Gefahr bringen, die ihrer
Natur nach sehr eng mit dem Glaubensunterricht
verbunden sind, die natürliche Gotteserkenntnis
(Theodizee) und die natürliche Sittenlehre (Ethik).
Sie sind der Ansicht, dass es nicht die Aufgabe
dieser beiden Fächer sei, mit Sicherheit irgendeine
Wahrheit über Gott oder ein anderes transzendentes
Wesen zu beweisen, sondern vielmehr zu zeigen, wie
doch die Wahrheiten, die der Glaube über den
persönlichen Gott und seine Gebote lehrt, so eng mit
den Bedürfnissen des Lebens zusammenhängen und wie
diese Wahrheiten darum von allen anzunehmen seien,
um der Verzweiflung aus dem Wege zu gehen und das
ewige Heil zu erreichen. Alle diese Behauptungen und
Ansichten stehen in offenem Widerspruch mit den
Entscheidungen Unserer Vorgänger Leo XIII. und Pius
X.; sie sind auch unvereinbar mit Verordnungen des
Vatikanischen Konzils. Es wäre unnötig, diese
Irrtümer zu betrauern, wenn alle, auch auf dem
Gebiet der Philosophie, mit gebührender Ehrfurcht
auf das Lehramt der Kirche schauten. Seine Aufgabe
ist es nach göttlicher Anordnung nicht nur, den
Glaubensschatz der Offenbarung zu bewahren und zu
erklären, sondern auch über die philosophischen
Fächer zu wachen, damit die katholischen
Glaubenslehren durch diese Irrtümer keinen Schaden
leiden.
2. Die positiven
Wissenschaften betreffend
35 Es ist
jetzt noch zu den Fragen Stellung zu nehmen, die aus
den positiven Wissenschaften entspringen und mehr
oder weniger mit den Wahrheiten des christlichen
Glaubens zusammenhängen. Nicht wenige bitten ja
dringend darum, die katholische Religion möge mit
dieser Wissenschaft möglichst stark Rechnung halten.
Es ist das lobenswert, soweit es sich um bewiesene
Tatsachen handelt; es heißt aber, vorsichtig
voranzugehen, wenn es sich mehr um Hypothesen
handelt – auch wenn sie irgendwie wissenschaftlich
begründet sind –, mit denen Lehren der Heiligen
Schrift oder der Tradition in Berührung stehen. Wenn
diese Hypothesen sich direkt oder indirekt gegen die
Offenbarung wenden, so können sie in keiner Weise
zugelassen werden.
a) Biologische und
anthropologische Fragen
36 Aus diesem Grund verbietet
das Lehramt der Kirche nicht, dass in
Übereinstimmung mit dem augenblicklichen Stand der
menschlichen Wissenschaften und der Theologie die
Entwicklungslehre Gegenstand der Untersuchungen und
Besprechungen der Fachleute beider Gebiete sei,
insoweit sie Forschungen anstellt über den Ursprung
des menschlichen Körpers aus einer bereits
bestehenden, lebenden Materie, während der
katholische Glaube uns verpflichtet, daran
festzuhalten, dass die Seelen unmittelbar von Gott
geschaffen sind. Es sollen diese Verhandlungen in
der Weise geschehen, dass die Gründe für beide
Ansichten, also dieser, die der Entwicklungslehre
zustimmt, wie jener, die ihr entgegensteht, mit
nötigen Ernst abgewogen und beurteilt,
vorausgesetzt, dass alle bereit sind, das Urteil der
Kirche anzunehmen, der Christus das Amt anvertraut
hat, die Heilige Schrift authentisch zu erklären und
die Grundsätze des Glaubens zu schützen[11].
Einige überschreiten nun verwegen diese Freiheit der
Meinungsäußerung, da sie so tun, als sei der
Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits
bestehenden und lebenden Materie durch bis jetzt
gefundene Hinweise und durch Schlussfolgerungen aus
diesen bereits mit vollständiger Sicherheit
bewiesen; ebenso tun sie, als ob aus den Quellen der
Offenbarung kein Grund vorliege, der auf diesem
Gebiet nicht die allergrößte Mäßigung und Vorsicht
geböte.
37 Wenn es sich aber um eine
andere Hypothese handelt, den so genannten
Polygenismus, lässt die Kirche nicht die gleiche
Freiheit. Darum können Gläubige sich nicht der
Meinung anschließen, nach der es entweder nach Adam
hier auf Erden wirkliche Menschen gegeben habe, die
nicht von ihm, als dem Stammvater aller auf
natürliche Weise abstammen, oder dass Adam eine
Menge von Stammvätern bezeichne, weil auf keine
Weise klar wird, wie diese Ansicht in
Übereinstimmung gebracht werden kann mit dem, was
die Quellen der Offenbarung und die Akten des
kirchlichen Lehramts über die Erbsünde sagen; diese
geht hervor aus der wirklich begangenen Sünde Adams,
die durch die Geburt auf alle überging und jedem
einzelnen zu eigen ist[12].
b) Der historische
Wert der Genesis
38 Wie in den biologischen
und anthropologischen Wissenschaften, so missachten
auch in der Geschichte einige kühn die von der
Kirche vorsichtig gezogenen Grenzen. In besonderer
Weise gibt ein System Anlass zur Trauer, das die
geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes mit
allzu großer Freiheit erklärt. Um ihre Gründe zu
verteidigen berufen sich die Vertreter dieses
Systems auf ein Schreiben, das vor nicht langer Zeit
von der Päpstlichen Bibelkommission an den
Erzbischof von Paris gerichtet wurde[13].
Es weist ausdrücklich darauf hin, dass die ersten
elf Kapitel des Buches der Schöpfung doch in einem
wahren Sinn, der von den Exegeten noch weiter zu
erforschen und zu erklären ist, geschichtlich sind,
wenn sie auch eigentlich nicht der Methode der
Geschichtsschreibung entsprechen, die von den besten
griechischen und lateinischen Autoren, auch von den
Fachleuten unserer Zeit, angewandt wurde. Die
gleichen Kapitel, so heißt es weiter, berichten in
ihrer einfachen und bildhaften, der Denkart eines
wenig gebildeten Volkes angepassten Sprache die
Hauptwahrheiten, die für unser Heil von
grundlegender Bedeutung sind; zugleich geben sie
aber auch einen volkstümlichen Bericht vom Ursprung
des Menschengeschlechtes und des auserwählten
Volkes.
39 Wenn auch
die alten Verfasser der Heiligen Bücher einiges aus
den volkstümlichen Erzählungen nahmen – was ruhig
zugegeben werden kann –, so darf man doch nie
vergessen, dass sie es unter dem Beistand göttlicher
Eingebung taten, der sie bei der Wahl und der
Wertung dieser Dokumente vor allem Irrtum bewahrte.
Es können auch die der Heiligen Schrift eingefügten
volkstümlichen Erzählungen in keiner Weise mit
Mythologien oder dergleichen auf die gleiche Stufe
gestellt werden, da diese mehr Frucht einer
ausschweifenden Einbildungskraft sind als des
Strebens nach Wahrheit und Einfachheit, das in den
Büchern des Alten Testamentes sosehr hervorleuchtet;
darum muss auch von seinen Verfassern gesagt werden,
dass sie alle Profanschriftsteller deutlich
übertreffen.
Schluss
40 Wir wissen
nun gut, dass die meisten katholischen Lehrer, die
die Früchte ihrer Studien den Universitäten,
Seminarien und religiösen Kollegien zukommen lassen,
weit von diesen Irrtümern entfernt sind, die heute
offen oder versteckt durch Neuerungssucht oder
übertriebenen apostolischen Eifer Verbreitung
finden. Wir wissen aber auch, dass diese neuen
Auffassungen die Unvorsichtigen anlocken können;
darum wollen Wir ihnen lieber gleich beim Beginn
entgegentreten, als dann erst die Heilmittel
verordnen, wenn das Übel bereits eingewurzelt ist.
41 Um daher
Unserer heiligen Pflicht nachzukommen, schreiben Wir
nach reiflicher Überlegung im Herrn den Bischöfen
und Obern der Ordensgenossenschaften unter schwerer
Verpflichtung für ihr Gewissen vor, mit allem Eifer
dafür zu sorgen, dass weder in der Schule, bei
Zusammenkünften, in Schriften irgendwelcher Art
solche Meinungen vorgebracht, noch sie auch
Klerikern oder Christgläubigen auf irgendeine Weise
vorgetragen werden.
42 Alle, die
in kirchlichen Anstalten lehren, sollen wissen, dass
sie das ihnen anvertraute Lehramt nicht ruhigen
Gewissens ausüben können, wenn sie die von Uns
erlassenen Lehrnormen nicht in religiösem Geist
annehmen und beim Unterricht genauestens befolgen.
Diese schuldige Ehrfurcht und diesen Gehorsam, die
sie fortwährend in ihrem Wirken dem kirchlichen
Lehramt entgegenbringen müssen, sollen sie auch dem
Verstand und dem Herzen ihrer Schüler einprägen.
43 Sicher
sollen sie mit aller Kraft und Anstrengung ihr
Lehrfach fördern, sich aber auch davor hüten, die
von Uns zum Schutz der Wahrheit des Glaubens und der
katholischen Lehre gezogenen Grenzen zu missachten.
Die neuen Fragen, wie sie die moderne Kultur und der
Fortschritt aufwirft, sollen sie sehr genau, aber
auch mit der gebotenen Klugheit und Vorsicht
untersuchen. Schließlich sollen sie nicht in einer
falschen Friedensliebe (oder ”Irenismus”) glauben,
die Getrennten und Irrenden könnten anders glücklich
in den Schoß der Kirche zurückgeführt werden, als
dass sie ehrlich die ganze Wahrheit der Kirche, ohne
jegliche Entstellung und jeden Abstrich,
entgegennehmen.
44 In dieser
Hoffnung, die wächst durch Eure Hirtensorge, geben
Wir als den Träger himmlischer Gnaden und als den
Beweis Unseres väterlichen Wohlwollens Euch allen
einzeln, Ehrwürdige Brüder, wie auch Eurem Klerus
und Volk von Herzen den Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom, bei
St. Peter, am 12. August 1950,
im zwölften Jahr
unseres Pontifikates.
PIUS PP. XII.
[1]
Conc, Vatic. D. B., 1876,
Const.
De Fide
cath., cap. 2, De revelatione.
[2].
C. I. C., e an. 1324; cfr. Conc. Vat., D, B. 1820,
Cost. De Fide cath., cap. 4, De fide et ratione,
post canones.
[3]
Luc. 10, 16.
[4]
Pius IX, Inter gravissimas, 28
oct. 1870, Acta, voI, I,p. 260.
[5]
Cfr. Conc. Vat., Const. De
Fide cath., cap. 1, De Deo rerum omnium creatore.
[6]
Litt. Enc. Mystici CORPORIS
Christi, A.A.S. vol. XXXV, p. 193 sq.
[7]
Cfr. Conc. Vat., D. B., 1796.
[8]
C.I.C., can. 1366, 2.
[9]
A.A.S. vol. XXXVIII, 1946, p. 387.
[10]
Cfr. S. Thom., Summa Theol.,
II – II, quaest.
1, art. 4
ad 3 et quaest. 45, art 2, in 6.
[11]
Cfr. Allocut. Pont, ad membra
Academiae Scientiarum, 30 novembris 1941 : A.A.S voL
XXXIII, p. 506.
[12]
Cfr. Rom. V, 12 – 19;
Conc.Trid., sess.
V, can. 1
– 4.
[13]
Die 16 ianuarii 1948 : A.A.S.
vol. XL, pp. 45–48.
Zwei
Übersetzungen

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